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Nominalinkorporation (noun incorporation) in S & Q

Posted: Wed Apr 11 2012 23:50
by Roman
Nominalinkorporation (im folgenden NI) ist ganz speziell eine Zusammensetzung vom Typ "Substantiv + Verb -> Verb". Sie erhält einen besonderen Namen, weil sie einige interessante grammatische Phänomene mit sich bringt. Beispiele im Deutschen wären "radfahren", "zähneputzen" oder "staubsaugen" (die man zum Glück wieder zusammenschreiben darf), im Englischen 'baby-sitting', 'mountain-climbing' oder 'fox-hunting'.

Das Substantiv ist oft das direkte Objekt des Verbs, jedoch nicht immer: 'baby-sitting' dürfte so etwas wie 'sit beside/with a baby' entsprechen. Normalerweise ergibt sich eine eindeutige Interpretation einfach daraus, dass andere Interpretationen in unserer Welt keinen Sinn ergeben (*??'sit on a baby').

Die Nützlichkeit solcher Zusammensetzungen entsteht dadurch, dass bestimmte Aktivitäten häufig vorkommen ('institutionalized activities') - man geht häufiger "bergwandern" als *"seegrundwandern". Folglich ist das einbezogene Substantiv über Sprachen hinweg immer ein sehr generelles - ein Wort wie -"alpenwandern" ist vielleicht noch praktisch, weil es viele Menschen betrifft, aber *"mondwandern" wäre sicherlich unpraktisch. Ebenso stehen vor dem Substativ weder Artikel noch Demonstrativpronomen.
Auch stellt man fest, dass Teile des menschlichen Körpers besonders häufig in NIs benutzt werden, wie etwa "händewaschen" oder "haarschneiden".

In einem monumentalen Paper von 1984 (Language vol. 60 no. 4) arbeitet Marianne Mithun eine Hierarchie der NIs aus. Wenn eine Sprache die NI einer bestimmten Stufe kennt, so kennt sie auch die Stufen darunter. Im folgenden eine Zusammenfassung:


Stufe I ist das Bilden von neuen lexikalischen Zusammensetzungen wie beschrieben. Das neue Verb drückt eine einheitliche Aktivität aus und ist intransitiv. Der Gültigkeitsbereich ('scope') des Verbs wird eingeschränkt. Man siehe die oberen Beispiele.

Für Stufe II gilt dasselbe wie zuvor, nur dass das Verb nicht mehr intransitiv bleibt, sondern nun ein Argument, welches früher oblik war, in den freien oder freigewordenen Slot des direkten Objekts rückt.
In Tupinambá (Brasilien) kann man z.B. das Äquivalent von "ich gesicht-wasche ihn" sagen, neben "ich wasche sein Gesicht"; im Yukatekischen Maya "ich baum-hacke mein Maisfeld"; in Blackfoot "ich rücken-breche den Mann"; und im Deutschen kann man schließlich "ich staubsauge mein Zimmer" sagen.

In Stufe III benutzt man die NIs zu Diskurs-Zwecken. Ein neu eingeführtes Substantiv steht für sich alleine. Wenn man sich jedoch darauf rückbezieht, dann wird es inkorporiert. Z.B. ist für Huahtla Nahuatl das Äquivalent von folgenden Sätzen attestiert: "Warum isst du nie Fleisch? Ich immer fleisch-esse." Oder in Mohawk so etwas wie: "Mein Vater kaufte acht Groppen. Er fisch-wusch und fisch-backte. Nachdem er fisch-backen-beendete, entschied er sich, zu seinem Freund zu gehen, um ihn fisch-zu-füttern".
Deutsch kennt die Stufe III offenbar nicht, wir haben für neue Informationen den unbestimmten Artikel; und für alte den bestimmten neben Pronomen.
Man stellt fest, dass es hier Tendenzen gibt, für welche Substantive eine NI wahrscheinlicher ist. Da das Substantiv in den Hintergrund rückt und die Sprecher viel mehr um Menschen (und vielleicht noch Tiere) besorgt sind, als um unbelebte Objekte, werden belebte Substantive eher nicht inkorporiert. Bei einem Verb wie "morden" ist das Opfer viel zu wichtig, um inkorporiert zu werden. Verben mit einem breiten Gültigkeitsbereich, wie "gut sein" oder "haben", werden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit in NIs einbezogen.

In Stufe IV schließlich wird das allgemeine inkorporierte Substantiv um ein weiteres Substantiv oder Adjektiv ergänzt, welches als Spezialisierung auf die konkrete Situation bezogen ist, z.B. in Gunwinggu (Australien): "sie baum-sahen Nussbaum", in Mohawk "ich kleid-machte gepunktetes" oder sogar sowas wie "es gras-wächst viel" (Caddo in Oklahoma & North Dakota).


Was wir nun in Sindarin haben, ist
e aníra ennas suilannad mhellyn în phain 'he desires to greet there all his friends',
was ein perfektes Beispiel für Stufe-II-NI zu sein scheint. Zwar würde man dasselbe erhalten, wenn indirekte Objekte leniert werden würden, aber eine viel natürlichere Erklärung scheint mir zu sein, dass hier mellyn "Freunde" in die Objekt-Rolle rückt. Diese NI stimmt auch mit den Tendenzen in natürlichen Sprachen überein: Das Verb anna- "geben" hat einen sehr breiten Geltungsbereich, der hier eingeschränkt wird, suil "Gruß" ist nicht belebt, wohingegen Aragorns Freunde als menschliche Wesen so wichtig sind, dass man sie viel lieber als direktes Objekt anstatt in obliker Rolle *anna huil am mellyn erwähnen möchte.

In Quenya haben wir:
tarkalion ohtakáre valannar (SD:246, SD:frontispiece) *'Tar-Kalion made Valar against the Valar'
Hier wird das Argument nicht verändert, vermutlich wäre es immer noch *Tar-Kalion káre ohta Valannar (es sei denn, man würde in so einem Fall vielleicht eine Präposition 'against' benutzen?).
Weiterhin finden wir:
hententa 'spot with eye' (wörtlich *'eye-point') und
leptenta *'point with finger' (wörtlich *'finger-point') (VT49:24),
wo wir wiederum inkorporierte Körperteile auftreffen.

Das ist, glaube ich, auch schon alles an Beispielen. Stufe III und IV würde man für Elbisch sicherlich nicht erwarten, das bleibt in natürlichen Sprachen auch eher den Sprachen Nordamerikas und Ozeaniens vorbehalten.

Schließlich ist erwähnenswert, woran man überhaupt erkennt, dass es sich um eine NI handelt, denn es ist längst nicht immer trivial. Kriterien können z.B. sein, dass solche Zusammensetzungen einheitliche Vokalharmonie zeigen. Oft haben inkorporierte Substantive spezielle Formen und unterscheiden sich so von alleinstehenden. Manchmal wurden eigenständige Substantive durch andere ersetzt, sodass die inkorporiete Form nicht länger mit der eigenständigen verwandt ist ('suppletion').
In Sindarin sehen wir, dass suil trotz der gewöhnlichen SVO-Wortstellung vor das Verb kommt und nicht leniert wird, was offenbar die NI auszeichnet. Q. ohtakáre in der Frontispiz-Version sieht schon ziemlich nach ?ohta káre aus, mit einer Leerstelle zwischen den beiden Wörtern (in SD:246 müssen wir Christopher Tolkien glauben), aber das geht dennoch gegen die gewöhnliche SVO-Stellung in Quenya. In leptenta sehen wir schließlich den blanken Wortstamm im Vergleich zu leper, sodass hier an einer Zusammensetzung kein Zweifel besteht.